Chronisches Erschöpfungssyndrom
Hauptsymptome sind ausgeprägte und langanhaltende Ermüdung und Erschöpfung, die den Alltag erheblich beeinträchtigen. Schon geringe Anstrengungen führen zu einer ungewöhnlich starken Erschöpfung, die auch nach einer Erholungsphase nicht abklingt.
Was ist das chronische Erschöpfungssyndrom?
Definition
Müdigkeit (Fatigue) ist eine Empfindung, die von den betroffenen Menschen unterschiedlich erlebt und benannt wird: Schlappheit, Mangel an Energie, Erschöpfung, Ermüdung, frühe Ermüdbarkeit, (Tages-)Schläfrigkeit, Einschlafneigung tagsüber etc. Das chronische Erschöpfungssyndrom („Chronic Fatigue Syndrome“, CFS) geht mit anhaltender, schwerwiegender Erschöpfung sowie weiteren zusätzlichen Beschwerden einher.
International hat sich die Bezeichnung ME/CFS, was für myalgische Enzephalomyelitis (oder Enzephalopathie)/chronisches Fatigue-Syndrom steht, durchgesetzt.
Voraussetzung für diese Diagnose ist, dass die Beschwerden neu aufgetreten sind, länger als 6 Monate bestehen und zu einer deutlichen Einschränkung bei beruflichen, schulischen, sozialen und persönlichen Aktivitäten führen. Außerdem müssen andere Erkrankungen, die solche Beschwerden auslösen können, ausgeschlossen sein.
Die Ursache ist ungeklärt, möglicherweise spielen verschiedene Faktoren eine Rolle.
Symptome
Das Hauptsymptom ist eine anhaltende Erschöpfung nach körperlicher, aber auch geistiger Anstrengung, die zu einer wesentlichen Einschränkung im Alltagsleben führt und sich nicht durch Ruhe bessert. Diese anhaltende Verschlechterung der Beschwerden nach geringfügiger Alltagsbelastung auch am Folgetag oder darüber hinaus wird als Post-Exertional Malaise (PEM) bezeichnet.
Außerdem ist bei ME/CFS typischerweise der Schlaf nicht erholsam.
Zusätzlich kommt es zu Störungen des Gedächtnisses, der Aufmerksamkeit, geistiger Verlangsamung bei der Verarbeitung von Informationen („Brain Fog“) und/oder zu einer orthostatischen Intoleranz mit Schwindel, Herzrasen und Benommenheit im Stehen.
Die Symptome haben zu einem konkreten Zeitpunkt begonnen, bestehen seit mindestens 6 Monaten und führen zu erheblichen Beeinträchtigungen im Alltag.
Die Beschwerden können soziale und wirtschaftliche Folgen haben und im Lauf der Zeit zu einer Vernachlässigung des sozialen Umfelds und des Freundeskreises führen. Als Reaktion auf die Veränderungen, die die Beschwerden mit sich bringen können, entstehen häufig Gefühle von Verlust, Trauer und Vereinsamung. Die Erkrankung bedeutet auch eine große Belastung für die nächsten Angehörigen, die im Alltag häufig viele zusätzliche Aufgaben übernehmen müssen.
Ursachen
Es ist bis heute trotz zahlreicher Studien ungeklärt, wie ein Erschöpfungssyndrom entsteht. Man nimmt ein Zusammenspiel verschiedener Faktoren an. Häufig berichten die Betroffenen von Stress, psychischer Belastung, Operationen oder einem Unfall.
Als Auslöser diskutiert werden:
- Infektionskrankheiten, die das Immunsystem schwächen, z. B. Mononukleose, Borreliose, COVID 19.
- Störungen im zentralen und autonomen Nervensystem (Durchblutung, Blutdruck)
- Psychische Faktoren, z. B. somatoforme Störungen, Reizdarmsyndrom
- Das bedeutet allerdings nicht, dass das chronische Erschöpfungssyndrom als rein psychische Erkrankung aufzufassen ist!
- Genetische Faktoren, z. B. Familien, bei denen das Erschöpfungssyndrom gehäuft auftritt.
Anfälliger sind bestimmte Bevölkerungsgruppen, z. B. Frauen, ethnische Minderheiten, sozial benachteiligte Menschen.
Häufigkeit
Chronische Müdigkeit ist nicht selten ein Grund, ärztliche Hilfe zu suchen. Obwohl viele Betroffene, die an chronischer Müdigkeit leiden, befürchten, dass sie ein chronisches Erschöpfungssyndrom (ME/CFS) haben, wird die Diagnose nach sorgfältiger ärztlicher Abklärung nur selten gestellt.
Je nach Diagnosekriterien und Altersgruppe leiden ca. 0,002–2,5 % der Bevölkerung an einem chronischen Erschöpfungssyndrom (ME/CFS). Frauen sind häufiger betroffen als Männer. Auch Kinder und Jugendliche können ein CFS entwickeln. Menschen, die aufgrund von geringem Einkommen oder aufgrund anderer sozialer Probleme in ihrer Lebensbewältigung eingeschränkt sind, erkranken häufiger.
Das Durchschnittsalter bei Krankheitsbeginn liegt zwischen 29 und 35 Jahren.
Untersuchungen
Die Diagnose „Erschöpfungssyndrom“ kann nur gestellt werden, wenn es keine andere Erklärung für die Beschwerden gibt. Somit ist es eine sog. „Ausschlussdiagnose“, die nach dem ausführlichen Anamnesegespräch, der körperlichen Untersuchung und verschiedenen Laboruntersuchungen vermutet werden kann. Manchmal sind Untersuchungen bei Fachspezialist*innen oder im Krankenhaus nötig.
Die Untersuchungen dienen vor allem dazu, Krankheiten zu erkennen, die eine chronische Müdigkeit verursachen können, oder diese auszuschließen. Es gibt bisher keine typischen Befunde für die Erkrankung.
Viele Erkrankungen können mit ähnlichen Beschwerden einhergehen, z. B.:
- Depression
- Angststörung
- Schizophrenie
- Demenz
- Essstörungen (Anorexie, Bulimie)
- Hepatitis
- Hypothyreose
- Schlafapnoe
- niedriger Blutdruck
- Zöliakie
- Anämie
- Vitamin-B12-Mangel.
Obwohl Burnout und Depression ebenfalls mit Erschöpfungssymptomen einhergehen, weisen sie insgesamt andere Beschwerden auf als ME/CFS. Von ME/CFS Betroffene sind häufig trotz der erheblichen Beeinträchtigungen, die die Erkrankung mit sich bringt, auffallend wenig depressiv.
Behandlung
Allgemeines
Für eine ursächliche Behandlung des Erschöpfungssyndroms sind bislang keine Medikamente zugelassen.
Wichtig ist es, dass die Betroffenen ihre Aktivitäten an ihre Bedürfnisse, Fähigkeiten und Belastungsgrenzen anpassen, und zwar sehr individuell.
In bisherigen Studien sind keine gut gesicherten Aussagen zu Therapie und Prognose möglich. Hier besteht ein erheblicher Forschungsbedarf.
Sinnvoll sind:
- Akzeptieren und Verständnis für die Beeinträchtigungen durch die Erkrankung
- Ärztliche und psychosoziale Betreuung
- Körperliche Aktivität unter Vermeidung einer Überlastung im Sinne von Pacing (s. u.)
- Ein striktes Vermeiden von körperlicher Aktivität kann kontraproduktiv sein.
Behandlungsziele
- Die Beschwerden lindern.
- Das Aktivitätsniveau und die Funktionsfähigkeit steigern.
- Die Lebensqualität verbessern.
Kognitive Verhaltenstherapie (KVT)
Die KVT wird bei vielen chronischen und schweren Erkrankungen als Bewältigungsstrategie eingesetzt, ohne dass damit die Auffassung verbunden ist, dass psychologische Faktoren ursächlich für die Erkrankung sind. Bei ME/CFS ist die KVT insbesondere zur Behandlung der häufig sehr belastenden zusätzlichen Beschwerden wie Schmerzen, Herz-Kreislauf-Beschwerden und Schlafstörungen angezeigt.
Die Therapie kombiniert folgende Elemente:
- Rehabilitation in Form individuell abgestimmter körperlicher Aktivitäten
- Psychotherapie, die den Betroffenen Methoden aufzeigt, um die Symptome unter Kontrolle bringen.
- Planung der Wiederaufnahme der Arbeit/des Schulbesuchs und anderer persönlicher Aktivitäten.
Dekonditionierungskonzept (Graded Exercises, GE)
GE ist ein strukturiertes und angeleitetes Bewegungsprogramm, dessen Ziel darin besteht, die körperliche Belastbarkeit langsam zu steigern. Zur individuellen Bewegungstherapie können alle Arten körperlicher Aktivität eingesetzt werden, auch alltägliche Tätigkeiten.
Das Therapieprogramm beginnt mit einer Beurteilung des Ausgangszustands. Begonnen wird mit kurzen Übungseinheiten, z. B. 10 Minuten täglich. Danach erfolgt eine langsame Steigerung: zunächst der Frequenz, dann der Dauer der Übungseinheiten und schließlich, wenn ein stabiler Allgemeinzustand erreicht ist, eine Steigerung der Intensität.
Das Dekonditionierungskonzept ist zur Behandlung von CF umstritten, zahlreiche Patient*innen berichten von einer Verschlechterung ihrer Beschwerden. Die Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin (DEGAM) rät in ihrer Leitlinie von Behandlungen auf der Basis des Dekonditionierungskonzepts ab.
Pacing
Nach Expertenmeinung ist ein konsequentes Energiemanagement durch Pacing ein wichtiger Baustein der Behandlung. Bisher gibt es keine ausreichenden wissenschaftlichen Beweise für den Nutzen dieses Behandlungskonzepts.
Unter Pacing wird das Einhalten eines individuell passenden Belastungsniveaus verstanden, sodass eine Überlastung und Verschlechterung der Symptome vermieden wird. Gleichzeitig soll damit die noch tolerable Belastung ermöglicht werden. Dieses Vorgehen wird als „Energy Envelope" oder „Energy Management" bezeichnet. Dabei wird ausgelotet, welche Belastung von Patient*innen ohne Symptomverschlechterung toleriert wird, und die Aktivität wird zunächst auf dieses Niveau beschränkt.
Im Idealfall kann durch konsequentes Pacing eine Verbesserung erreicht werden. Wichtig ist hierbei eine engmaschige und empathische Begleitung der Betroffenen, auch mit Unterstützung durch in der Behandlung von ME/CFS geschulten Physiotherapeut*innen.
Empfehlungen
- Wichtig ist eine vertrauensvolle Arzt-Patienten-Beziehung, bei der die Beschwerden der Betroffenen ernst genommen und die erforderlichen Therapieschritte eingeleitet und koordiniert werden.
- Soziale Hilfsangebote sollten angenommen werden.
- Folgetermine in der Hausarztpraxis sind wichtig, um den Verlauf der Erkrankung zu beobachten und evtl. weitere Schritte einzuleiten.
- Ein Symptomtagebuch kann hilfreich sein.
- Wie bei vielen anderen Erkrankungen auch kann sich völlige körperliche Inaktivität ungünstig auswirken.
- Körperliche Aktivität (s. o.) unter Beachtung der individuellen Belastungsgrenzen ist empfehlenswert.
Prognose
Da die Ursachen vielfältig sind und die Behandlung je nach Patient*in unterschiedlich ausfällt, ist es schwierig, eine Prognose zu stellen.
Bei weniger als 10 % der Betroffenen lassen die Beschwerden dauerhaft nach. Bis zu 20 % der erfolgreich Behandelten erleben im weiteren Verlauf eine erneute Zunahme ihrer Beschwerden.
Weitere Informationen
Deximed
- Chronisches Erschöpfungssyndrom – Informationen für ärztliches Personal
DEGAM
Autorin
- Ulrike Boos, Redakteurin von Deximed, Freiburg
Quellen
Literatur
Dieser Artikel basiert auf dem Fachartikel Chronisches Erschöpfungssyndrom (CFS). Nachfolgend finden Sie die Literaturliste aus diesem Dokument.
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