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Wiesn – im Ernst?

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In München tobt gerade das Oktoberfest, die Wiesn. Über die Infektionsgefahr für COVID-19 wurde in den Medien, von Epidemiolog*innen, Ärzt*innen und von Lokalpolitiker*innen schon hinreichend diskutiert. Der Tenor war, dass die COVID-Inzidenz zwar ansteigen würde, aber die Zahl der Klinikeinweisungen und Todesfälle hinnehmbar seien. Hierzu möchte ich mich gar nicht äußern. Ich bin nur gespannt, was all die Fachleute hinterher sagen werden.

Die Wiesn ist jedenfalls eine Belastungsprobe für die Bewohner*innen Münchens. Hier scheiden sich immer wieder die Geister. Die Wiesnhasser*innen wie ich halten die Wiesn für ein „arg in die Länge gezogenes Dauerbesäufnis von sechseinhalb Millionen grenzdebiler Andreas-Gabalier-Fans ist, die sonst keinen Platz finden, wo sie ihre Billigdirndl und Discounterlederhosen auftragen könnten.“ So drückt es zumindest die Süddeutsche Zeitung  aus. Die Wiesnfans finden, die Wiesn gehöre „irgendwie“ dazu, wecke schöne Kindheitserinnerungen, biete Spaß (Gaudi), super Stimmung sowie leckeres Essen und sei eine tolle Gelegenheit, endlich wieder Tracht zu tragen.

Auf der Wiesn besteht nicht nur die Gefahr, sich mit COVID-19 anzustecken. Ein „Post-Wiesn" grippaler Infekt ist Tradition. Nach der Wiesn steigt die Zahl derer, die wegen Atemwegsinfekten eine Krankschreibung brauchen und einen großen Lippenherpes mit sich herumtragen, signifikant an. Die Anamnese ist dabei immer kurz: „Ich war auf der Wiesn.“ Alles klar.

Dass die Wiesn noch nie gut für die Gesundheit war, auch nicht vor der Pandemie, wissen alle. Wer zur Wiesn-Zeit in der Notfallversorgung arbeitet, kann ein Lied davon singen: Durch alle Bevölkerungsgruppen gibt es schwere Alkoholvergiftungen. An Starkbier ist keiner gewohnt, besonders Tourist*innen rechnen gar nicht mit der Wirkung. So gibt es massenweise bewusstlose Personen zu versorgen, die in ihrem Erbrochenen liegen und eingenässt haben. Das gehört natürlich auch „irgendwie“ dazu.

Manches, was einige für Spaß halten, ist wirklich überhaupt nicht spaßig: Auf der Wiesn grölen tausende betrunkene Männer enthemmt sexistische Lieder, finden, ein bisschen Anfassen ist okay, und verschaffen den Münchner Sexarbeiter*innen 16 Tage Dauerausbeutung. Das Resultat konnte ich in der Praxis jedes Jahr nach der Wiesn beobachten: eine deutliche Zunahme von sexuell übertragbaren Krankheiten, besonders bei männlichen Touristen. Mit Grausen erinnere ich mich an eine Zeitungsüberschrift aus meiner Studienzeit: „Wiesn dieses Jahr ruhiger: Erst 15 Vergewaltigungen“. Aber wenn gerade alle so lustig sind, ist das doch okay, oder? Dass das auch „irgendwie“ dazu gehören soll, werde ich wohl nie einsehen.

Das sind die Kehrseiten der Wiesn. Aber es muss doch auch etwas Positives geben, etwas, das wirklich schöne Kindheitserinnerungen weckt! Das gibt es tatsächlich. Tagsüber hingehen, draußen sitzen, gebrannte Mandeln essen, mit Fahrgeschäften fahren, all das kann wirklich Spaß machen und Kinderaugen zum Leuchten bringen. Dann kann sich auch die ganze Familie auf harmlose und weitgehend ungefährliche Weise amüsieren.

Meine beiden Töchter möchten auch auf die Wiesn. Ich bin nicht so begeistert. Zufälligerweise passen ihnen unsere zwei Dirndl-Familienerbstücke wie angegossen. Sie treffen sich mit Freundinnen und gehen auf die Oide Wiesn. Das ist ein gesonderter Bereich auf der Theresienwiese, wo man Eintritt zahlen muss, wo weniger betrunkene Männer herumtorkeln und wo historische Fahrgeschäfte zu geringen Preisen zu einer langsamen Fahrt einladen. Das Ambiente ist nostalgisch und die Stimmung entspannt. Ich hoffe, dass meine Töchter Spaß haben, dass sie nicht belästigt werden, dass sie sich nicht mit COVID anstecken und dass sie mir gebrannte Mandeln mitbringen. So unwahrscheinlich ist all das gar nicht.

Marlies Karsch, Chefredakteurin

 

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