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Social Prescribing – Soziale Unterstützungsangebote in der hausärztlichen Praxis

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Zusätzlich zu den medizinischen Beratungsanlässen kommen in der hausärztlichen Praxis jeden Tag verschiedene soziale Probleme  zur Sprache. Dies können beispielsweise Schwierigkeiten am Arbeitsplatz, Mobbing, Arbeitslosigkeit, finanzielle Probleme, Beziehungsprobleme, Trauer oder Einsamkeit sein. Hausärzt*innen in Deutschland verfügen systembedingt über keine direkte Verbindung zu sozialen Unterstützungsangeboten. Stattdessen sind sie auf eigene Kenntnisse der Angebote in ihrer Umgebung und auf ihre eigene Vernetzung mit sozialen Diensten angewiesen, um Betroffenen mit sozialen Problemen konkrete Hilfe anbieten zu können.

Um dieser Versorgungslücke systematisch entgegenzuwirken und eine niederschwellige patientenzentrierte Versorgung anzubieten, wird in Großbritannien  seit mehreren Jahren Social Prescribing auf nationaler Ebene durch den National Health Service (NHS ) ausgebaut. Dabei vermitteln u. a. Hausärzt*innen Betroffene an eine bedarfsorientierte Unterstützung weiter. In der Regel wird an einen „Link Worker“ verwiesen. Dabei handelt es sich um eine neu etablierten Berufsgruppe, deren beratende Tätigkeit an der Sektorengrenze zwischen gesundheitlichen und sozialen (Versorgungs-) Angeboten angesiedelt ist.

Link Worker nehmen sich Zeit, um in persönlichen Gesprächen Patient*innen dabei zu unterstützen, eigene Ressourcen und Bedürfnisse zu erkennen, gemeinsam einen Handlungsplan zu erstellen und diesen strukturiert umzusetzen. Hierzu benötigen Link Worker umfassende Kenntnis von sozialen Angeboten am Wohnort, um bei der Suche nach passenden Angeboten helfen zu können. In Großbritannien sind dies vor allem (Gruppen-) Aktivitäten in den Bereichen Bewegung, Natur oder Kunst/Kultur sowie Beratungsangebote. Bei einer einsamen Person könnte dies z. B. eine Gruppe sein, die gemeinsam spazieren geht. Andere Betroffene benötigen zunächst eine Sicherung grundlegender Bedürfnisse wie Wohnraum oder die Vermittlung einer Beratung bei Arbeitslosigkeit oder Verschuldung. So kann eine leicht zugängliche, umfassende Versorgung von Patient*innen unter Berücksichtigung ihrer Lebensumstände ermöglicht werden.

Eindeutige aussagekräftige Daten aus randomisierten kontrollierten Studien liegen noch nicht vor. Aus qualitativen und Beobachtungsstudien gibt es jedoch positive Ergebnisse  bezüglich der Wirkung von Social Prescribing auf Wohlbefinden und psychische Gesundheit.

In immer mehr Ländern gibt es Pilotprojekte und Forderungen, Social Prescribing im Gesundheitssystem zu etablieren. Doch auch wenn es sich um eine zunehmend globale Bewegung handelt (WHO Global Social Prescribing Alliance ), unterscheidet sich die konkrete Ausgestaltung stark. Es gibt dabei beispielsweise Unterschiede im beruflichen Hintergrund von Link Workern, in der räumlichen und organisatorischen Anbindung an ärztliche Praxen, und im generellen Einsatz von Link Workern im Gesamtkonzept.
Wie könnte Social Prescribing in der Primärversorgung in Deutschland aussehen? Hierzu gibt es Überlegungen und Vorschläge aus Österreich vom Institut für Gesundheitsförderung und Prävention : An die „Primärversorgungseinheit“, also in unserem Fall an die Hausarztpraxis, könnten Sozialarbeiter*innen angebunden werden, die als Link Worker fungieren. Diese sollen die lokalen sozialen Angebote und Institutionen kennen, Ärzt*innen und Praxismitarbeiter*innen beraten sowie für soziale Fragestellungen sensibilisieren und Betroffene an entsprechende Angebote vermitteln.

Organisatorisch ganz anders soll das vom Bundesministerium für Gesundheit angekündigte Konzept der Gesundheitskioske  funktionieren. Diese wären neue, zusätzliche Anlaufstellen in der deutschen Primärversorgung, parallel zur hausärztlichen Versorgung. Dort sollen Patient*innen von Pflegefachkräften zu gesundheitsrelevanten Themen – die laut dem BMG explizit sowohl gesundheitliche als auch soziale Angelegenheiten umfassen – beraten und bedarfsgerecht weitervermittelt werden. Soziale Anliegen als Herausforderung in der medizinischen Versorgung scheinen also auch in Deutschland politisch erkannt worden zu sein. Es bleibt jedoch spannend, wie genau die Umsetzung einer Verknüpfung von medizinischer und sozialer Versorgung in den nächsten Jahren organisatorisch ausgestaltet wird.

Wie können wir bis dahin Patient*innen mit sozialen Problemstellungen und Unterstützungsbedarf besser versorgen? Hausärzt*innen und ihre Praxismitarbeiter*innen könnten sich direkt über Angebote in der Umgebung informieren, Kontakt zu Beratungsstellen, Stadtteiltreffs, Gemeindezentren und anderen Einrichtungen suchen und sich vernetzen. Das wäre auch ohne offizielle Verordnungsmöglichkeit ein Anfang und könnte dabei helfen, die eigene Sprechstunde zu entlasten und Patient*innen umfassender sowie zielgenauer zu versorgen.

Marlies Karsch (Chefredakteurin)
Sinah Evers (Institut für Public Health und Pflegeforschung, Universität Bremen)

 

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