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Was macht eine Leitlinie praxistauglich?

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In Deutschland gibt es Hunderte von ärztlichen Leitlinien. Sehr viele sind nach den Standards der AWMF  erstellt und als „AWMF-Leitlinien" bei der AWMF registriert und abrufbar. Es gibt spezialistische Leitlinien zu Fragestellungen, die in der Hausarztpraxis eine untergeordnete Rolle spielen, z. B. Therapie der Blitz-Nick-Salaam Epilepsie . Im Idealfall gibt es aktuelle DEGAM-Leitlinien  zu hausärztlichen Fragestellungen oder, auch gut, Leitlinien anderer Fachgesellschaften, an denen die DEGAM-beteiligt ist, wie die NVL Unipolare Depression . Und dann existieren spezialistische Leitlinien zu Krankheitsbildern, die für die Hausarztpraxis durchaus relevant sind, aber ohne DEGAM-Beteiligung entstanden sind. Hier stehen wir als Redaktion häufig vor einem Problem: Die Empfehlungen der Spezialist*innen sind praxisfern und bilden die Realität in der hausärztlichen Versorgung nicht ab.

Wie gehen wir damit um? Wir können einen Leitlinientext nicht einfach umschreiben, nur weil sich die Leitlinie nicht auf die hausärztliche Versorgung bezieht. Ein aktuelles Beispiel ist die S2k-Leitlinie Helicobacter pylori und gastroduodenale Ulkuskrankheit  unter der Federführung der Deutschen Gesellschaft für Gastroenterologie. Diese Leitlinie wurde trotz großer hausärztlicher Relevanz ohne DEGAM-Beteiligung erstellt und enthält nun Empfehlungen, die in Deximed als Nachschlagewerk für den hausärztlichen Praxisalltag nicht eins-zu-eins übernommen werden können.

Beispielsweise wird in der Leitlinie empfohlen, dass bei Patient*innen mit geplanter oder laufender PPI-Dauertherapie eine Testung auf H. pylori und bei Nachweis eine Eradikation erfolgen sollte, um der Entstehung eines Magenkarzinoms aus einer atrophischen Gastritis vorzubeugen. Die Datengrundlage für diese Empfehlung ist eine tierexperimentelle Studie (mit Wüstenrennmäusen). Ein Cochrane-Review von 2014 konnte diesen Zusammenhang nicht bestätigen. Alle Betroffenen, die z. B. wegen Reflux PPI einnehmen, auf Helicobacter zu testen, wäre ein enormer Aufwand auf der Basis nicht sehr überzeugender Evidenz. Außerdem empfiehlt die Leitlinie bei diversen Risikokonstellationen auch nichtinvasive Tests auf Helicobacter pylori, obwohl diese nur von der GKV erstattet werden, wenn sie zur Kontrolle eines Eradikationserfolges eingesetzt werden. Die Leitlinienautor*innen haben offenbar die Diskussionen nicht bedacht, die in Hausarztpraxen aufgrund dieser Empfehlungen dann mit Betroffenen zu führen sind, die ihren HP-Test selbst bezahlen sollen.

Wie gehen wir mit solchen Leitlinienempfehlungen um, wenn es keine eigene Leitlinie, ein Sondervotum oder eine andere Stellungnahme der DEGAM gibt? In diesem Fall gab es einen Review durch einen erfahrenen DEGAM-Leitlinienautor für unseren Artikel Helicobacter-pylori-Infektion. In der Zusammenarbeit mit dem Reviewer konnten Leitlinienempfehlungen auf der Basis neuer Quellen an den hausärztlichen Alltag angepasst werden. Bei zahlreichen Themenbereichen gibt es weder eigene DEGAM-Empfehlungen noch einen DEGAM-Review, weil ein Krankheitsbild insgesamt selten ist oder die ärztliche Versorgung der Betroffenen sowieso bei Gebietsärzt*innen oder in Spezialambulanzen erfolgt, wie z. B. bei Spondylarthropathien bei Kindern oder bei Infantiler Zerebralparese. Hier legen wir den Fokus auf die für die hausärztliche Versorgung oder Nachsorge notwendigen Informationen.

In vielen Fällen reichen Leitlinienempfehlungen anderer Fachgesellschaften für die Empfehlungen in Deximed nicht aus. Dann suchen wir selbst nach weiteren hausärztlichen Quellen, zusätzlicher Evidenz oder Informationen zu Off-Label-Use sowie Erstattungsfähigkeit durch die GKV, um umfassende praxisrelevante Informationen bereitzustellen.

Für die Zukunft wäre es allerdings wünschenswert, wenn es für Problemstellungen, die in Hausarztpraxen häufig vorkommen, wie eben die Helicobacter-pylori-Infektion, DEGAM-Beteiligungen an der Leitlinienerstellung oder eigene DEGAM-Leitlinien geben würde. Dann hätten wir eine eigene kritische Bewertung der Evidenz und konkrete Empfehlungen, die auf die hausärztliche Praxisrealität zugeschnitten sind. Ein nachträgliches „Herumbessern“ bliebe uns so erspart.

Marlies Karsch (Chefredakteurin)

 

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