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Wie kann die elektronische Patientenakte (ePA) wirklich nützlich werden?

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Die Bundesregierung plant, am 01.07.2024 bundesweit die elektronische Patientenakte (ePA) einzuführen. Sie soll mit einer ePA-App über Smartphone genutzt werden. Die DEGAM hat vor einigen Tagen ein Positionspapier zur ePA  mit umfassenden Vorschlägen zu strukturellen, inhaltlichen und regulatorischen Verbesserungen herausgegeben. Auch ich habe zu diesem Thema noch einige Kritikpunkte und Anregungen.

Die ePA kann für die medizinische Versorgung unter hausärztlicher Steuerung zahlreiche Vorteile bieten: Relevante Informationen für die notfallmäßige Behandlung unbekannter Patient*innen, wie Allergien, Vorerkrankungen und Medikation könnten abgefragt und Vorbefunde, wie EKG-Veränderungen, überprüft werden. Durch in der ePA enthaltene Vorbefunde könnten Überdiagnostik und -therapie vermieden werden und Patient*innen vor Über-, Unter- und Fehlversorgung geschützt werden.

Die DEGAM kritisiert in ihrem Positionspapier, dass die ePA in ihrer jetzigen Form eine unstrukturierte Sammlung von Daten beinhaltet, z. B. mit PDF-Dokumenten. Daten müssen daraus manuell z. B. in das Praxis-Verwaltungssystem (PVS) übertragen werden. Die DEGAM empfiehlt ein einfach zu bearbeitendes und übersichtlich strukturiertes Format mit umfassender Filter-, Sortier- und Suchfunktion sowie eine strukturierte Datenübertragung zwischen PVS und ePA. Außerdem wird im Positionspapier eine angemessene Vergütungsregelung für das Erstellen und Bearbeiten von ePA durch Hausärzt*innen gefordert. Auch höchstmöglicher Schutz der Daten und das Recht von Patient*innen auf informationelle Selbstbestimmung müssen laut DEGAM gewährleistet werden. Und Personen ohne Internetzugang und Endgerät sollen nicht von der Nutzung der ePA ausgeschlossen werden. Die Einführung und Anwendung der ePA soll der DEGAM zufolge wissenschaftlich begleitet und die Datennutzung für Forschungszwecke klar geregelt werden.

Das Konzept der ePA geht von der Annahme aus, dass alle Ärzt*innen ihre Arbeit gut machen, dass Vorbefunde nicht schlampig und ungenau erhoben wurden, dass es keine Vorurteile gegenüber Erkrankten gab, die zu stigmatisierenden Diagnosen führten, und dass alle Ärzt*innen mit sensiblen Informationen verantwortlich umgehen und Zusammenhänge richtig einschätzen können.

Ich denke, wir alle kennen zahlreiche Beispiele, die dieser Annahme widersprechen. Alle Hausärzt*innen haben schon erlebt, dass die erneute Befundung einer MRT durch eine neu hinzugezogene Radiologin etwas ganz anderes ergab als der Erstbefund. Wir haben gesehen, dass auf Klinikentlassungsbriefen einfach nur mit Copy-Paste alte Diagnosen aus älteren Briefen derselben Betroffenen übernommen wurden, ohne neue Diagnosen korrekt anzugeben. Auch Verwechslungen kommen vor. Ich erinnere mich an einen Patienten mit einem Harnblasenkarzinom, der plötzlich ein Kolonkarzinom in seinen Diagnosen stehen hatte, weil sein histologischer Befund mit dem eines anderen Patienten verwechselt wurde.

Besonders im Gedächtnis ist mir eine obdachlose Patientin geblieben, in deren Akte „Aggressivität und Agitiertheit“ stand. Vor mir saß dann eine ruhige, freundliche und sehr differenzierte junge Frau, die mir die Begegnung mit meinem Vorgänger so beschrieb: Sie habe sich mit einer gynäkologischen Fragestellung an meinen Kollegen gewandt, der ihr nicht glaubte und ihr unterstellte, sie würde sich etwas ausdenken. Als sie auf ihrer Frage beharrte, wurde der Kollege ärgerlich, verwies sie der Praxis und machte den obenstehenden Aktenvermerk. Die Patientin hatte übrigens recht: Bei ihr wurde im Verlauf das von ihr vermutete gynäkologische Problem festgestellt. Vorurteile und Missverständnisse können zu Fehleinschätzungen führen. Schnell sind eine F-Diagnose, Drogen- oder Alkoholabusus oder Non-Compliance in einer Akte, einem Brief oder einem Befundbericht notiert.

Zur ePA, in der sich korrekte und wertvolle, aber auch ungenaue, schlampige oder gar falsche Befunde sammeln können, habe ich folgende Fragen: Können Patient*innen und ggf. auch ihre Hausärzt*innen solche Befunde kontrollieren und ggf. wieder aus Akten entfernen? Das bloße Nicht-Sichtbarmachen reicht hier meiner Meinung nach nicht aus. Wie kann verhindert werden, dass in der guten Absicht, vor Überdiagnostik zu schützen, auf der Basis alter fehlerhafter Befunde auf eine weitere sinnvolle Diagnostik verzichtet wird, und dass weitere Maßnahmen auf einem Fehlbefund aufbauen? Befunde in der ePA müssen stets kritisch hinterfragt werden. Das ist eine große Herausforderung für Hausärzt*innen bei der Erstellung und Bearbeitung von ePA.

Marlies Karsch (Chefredakteurin)

 

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