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Paradigmenwechsel in der Schmerztherapie?

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Eine neue Cochrane-Netzwerk-Metaanalyse (NMA)  untersucht die Wirksamkeit von Antidepressiva in der Schmerztherapie und kommt zu dem Schluss, dass einzig für Duloxetin eine moderate Wirksamkeit belegt ist. Für Milnacipran sind die Ergebnisse vielversprechend, aber noch nicht ausreichend. Für alle anderen 23 untersuchten Antidepressiva gibt es keine belastbare Evidenz für eine Wirksamkeit gegen Schmerzen. Haben wir unsere Schmerzpatient*innen also unnötigerweise den Risiken und Nebenwirkungen von Antidepressiva ausgesetzt?

Wir alle haben schon viele Dialoge dieser Art geführt: „Ich würde Ihnen gegen Ihre Schmerzen gerne noch ein Antidepressivum geben.“ Die Antwort lautet in der Regel ungefähr so: „Aber Frau Doktor! Ich bin doch nicht psycho. Ich bilde mir die Schmerzen nicht ein. Depressionen habe ich auch nicht!“ Darauf folgt die etwas unbeholfene Erklärung: „Niemand sagt, dass Sie psychisch krank sind. Aber es gibt wissenschaftliche Beweise dafür, dass Antidepressiva gegen Schmerzen helfen, auch wenn man keine Depression hat.“

Hatten all die Betroffenen, die so gar nicht begeistert davon waren, Antidepressiva gegen Schmerzen einzunehmen, instinktiv doch recht? Ich muss zugeben, dass mir auch nie sicher war, ob bei meinen Patient*innen im Verlauf eine Wirkung zu sehen war. Aber das war ja nur eine subjektive Wahrnehmung und keine Evidenz.

Wir haben die Ergebnisse der NMA in unseren Artikeln Grundsätze der Schmerzbehandlung, Neuropathische Schmerzen und Palliative Schmerztherapie ergänzt. Die Wirksamkeit für Duloxetin ist für die Standarddosierung von 60 mg 1x täglich belegt. Zugelassen ist der Wirkstoff nur für die Behandlung neuropathischer Schmerzen bei diabetischer Neuropathie. Für Schmerzen anderer Ursache ist der Einsatz ein Off-Labe-Use. In der atd Arzneimitteldatenbank  des arznei-telegramms wird die antidepressive Wirksamkeit von Duloxetin als ähnlich stark wie die anderer SSRI und kein Vorteil gegenüber anderen Antidepressiva beschrieben.

Ein Schwachpunkt der Cochrane-NMA ist, dass die eingeschlossenen 176 Studien in der Regel Personen mit depressiver Stimmungslage und Depression ausgeschlossen haben. Daher ist es nicht möglich, eine Aussage über die Wirksamkeit von Antidepressiva bei Betroffenen mit Schmerzen und Depression zu treffen. Hier könnten die Effekte durchaus ganz anders aussehen. Die Ergebnisse gelten somit nur für Schmerzpatient*innen ohne Depression. Bei einer generellen Prävalenz der Diagnose Depression von 9,2 % in Deutschland und einer möglicherweise höheren Prävalenz bei Personen mit chronischen Schmerzen fehlen somit wichtige Daten. Außerdem liefern die vorhandenen Studien keine verlässliche Evidenz zu Langzeitwirkung und Sicherheit von Antidepressiva in der Schmerztherapie.

Ist nun alles falsch, was bisher gemacht wurde? Soll bei Schmerzpatient*innen, die ein Antidepressivum erhalten, auf Duloxetin umgesetzt werden? Bei Betroffenen, die mit ihrer derzeitigen Schmerzmedikation nicht klarkommen und wenig Linderung erfahren, ist die Therapie sicher generell zu überdenken. Aber bei Patient*innen, die mit ihrer Schmerzmedikation plus Antidepressivum eine gute Symptomkontrolle erreichen und zufrieden sind, besteht kein Änderungsbedarf. Wer kann außerdem sagen, dass nicht zusätzlich eine Depression vorliegt?

Führen die Ergebnisse der NMA nun zu einem Paradigmenwechsel in der Schmerztherapie? Für eine Berücksichtigung in Leitlinien und anderen Handlungsempfehlungen ist die am 10.05.2023 erschienene Cochrane-Publikation noch zu neu. Möglicherweise wird zukünftig empfohlen, Schmerzpatient*innen auf das Vorliegen einer Depression zu screenen und das weitere Vorgehen davon abhängig zu machen. Schmerzbetroffene mit Depression sollten auf jeden Fall die Behandlung bekommen, die bei Ihnen wirksam ist. Und diejenigen ohne Depression sollten keine medizinisch unnötigen und unwirksamen Medikamente einnehmen.

Marlies Karsch (Chefredakteurin)

 

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