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Wer oder was ist schon normal?

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Konservative und auch rechtspopulistische Politiker*innen haben in den letzten Wochen den Begriff „normal“ strapaziert. Sie machten sich öffentlich Sorgen darüber, dass die Anliegen der „normalen Bürger“ oder „normalen Leute“ von „denen da oben“ nicht ernst genommen oder nicht gehört werden könnten. Da stellt sich die Frage, was „normal“ in diesem Zusammenhang ist und wer diese „Normalen“ sind.

Wenn man sich die Äußerungen der betreffenden Politiker*innen in Ansprachen, Interviews und sozialen Medien so ansieht, scheinen diese „normalen“ Menschen keiner Minderheit anzugehören, eher in ländlichen Regionen in einem Einfamilienhaus zu wohnen, gerne Auto zu fahren und Fleisch zu essen und die Genderdebatte doof zu finden. Es geht hier also nicht um statistische Häufigkeiten und Durchschnittswerte, sondern um konservative Wertvorstellungen.

Interessanter und meiner Meinung nach auch gefährlicher ist die Frage, wer aus konservativer Sicht zu den „nicht normalen“ Personen gehört. Zum einen sind das, soweit ich das verstehe, „woke Großstadtmenschen“, die Grünen, die Bundesregierung, Klimaaktivist*innen und zum anderen Angehörige von Minderheiten, wie z. B. Transpersonen oder Geflüchtete. Es wird gefordert, dass die Politik sich endlich mit den „wirklich wichtigen“ Dingen befasst und nicht mit so überflüssigen Themen wie dem Selbstbestimmungsgesetz.

Es reicht leider nicht aus, diesen neuen Normalitätsbegriff als hinterwäldlerisch und spießig zu belächeln. Hier wird nämlich versucht, einen Keil in unsere pluralistische und im Kern solidarische Gesellschaft zu treiben. Es wird unterstellt, dass es eine große schweigende Mehrheit gibt, die einen naturgegebenen Anspruch auf das Normalsein hat, von denen die kleinere Gruppe der „Nicht-Normalen“ abgegrenzt und politisch zur Vernunft gebracht werden muss. Die Vorstellung von Normalität als Gegensatz zum Anderssein kann schnell zu Ausgrenzung und Diskriminierung führen. Auch das Kleinhalten von Personen mit innovativen und mutigen Ideen zur Anpassung an die allgemeine Mittelmäßigkeit schadet einer Gesellschaft.

Aus ärztlicher Sicht ist der Begriff „normal“ gefährlich, besonders wenn er mit „gesund“ gleichgesetzt wird. Wir hatten beispielsweise in einer schlechten Übersetzung aus dem Norwegischen beim Thema Down-Syndrom einen Satz, der so anfing: „Im Vergleich zu normalen Kindern haben Kinder mit Down-Syndrom ein erhöhtes Risiko für ...“ Kinder ohne Down-Syndrom werden also als „normal“ bezeichnet und Kinder mit Down-Syndrom davon abgegrenzt. Wenn Gesundsein mit Normalsein gleichgesetzt wird, kann eine Person mit einer chronischen oder angeborenen Erkrankung niemals einen Zustand erreichen, der eine Zugehörigkeit zur Mehrheit der „normalen“ Personen möglich macht.

Das ist nun wirklich nicht das, was wir sagen möchten. Normalität ist bei keinem der in Deximed beschriebenen Symptome und Erkrankungen ein adäquates Behandlungsziel. Uns geht es darum, dass unsere Patient*innen schmerzfrei, beschwerdefrei und zufrieden werden, dass sie Selbstakzeptanz finden und im Alltag möglichst wenige Einschränkungen erleben.

Wir bei Deximed stehen für Vielfältigkeit und Toleranz. Es ist nicht nur eine ärztliche Aufgabe, schwachen und kranken Menschen zu helfen, sondern auch Menschen in all ihrer Einzigartigkeit zu bestärken. Unser Leben und unsere Gesellschaft wird bereichert durch die Herzlichkeit von Menschen mit Down-Syndrom, durch die besonderen Fähigkeiten, die viele Personen mit ADHS oder Asperger-Syndrom mitbringen oder durch die Sensibilisierung für Geschlechterklischees, die wir von Transpersonen lernen können.

Normalität kann ein Synonym für Gleichförmigkeit und stagnierende Entwicklung sein. Die Menschheit entwickelt sich nur weiter, wenn das Besondere und Außerordentliche offen angenommen wird. Weiterentwicklung ist das Gegenteil von Konservativismus. Hier liegt also auch der Grund für das demonstrative Eintreten für die „normalen Leute“. Diese werden am Status quo nichts ändern.

Marlies Karsch (Chefredakteurin)

 

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