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Der Semaglutid-Hype

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Meine Tochter fragt mich, über was ich gerade schreibe. „Ach ja, Semaglutid kenne ich. Da gab es einen kritischen Video-Podcast über Kim Kardashian, die damit viel abgenommen hat, damit sie in ein Kleid von Marilyn Monroe reinpasst. Das Medikament soll nicht so gesund sein.“ Ich bin baff. Die Diskussion über den Semaglutid-Hype hat unser Kinderzimmer erreicht. Tatsächlich wird so viel darüber publiziert, dass ich an dieser Stelle etwas Übersicht für Sie schaffen möchte.

Der ursprünglich gegen Typ-2-Diabetes zugelassene GLP-1-Rezeptor-Agonist Semaglutid ist seit 17. Juli in Deutschland auf dem Markt. Der Wirkstoff ist nun zur Behandlung von Adipositas bei Patient*innen mit einem BMI ≥ 30 kg/m2 oder ab einem BMI ≥ 27 kg/m2 bei Vorliegen gewichtsassoziierter Begleiterkrankungen (z. B. Typ-2-Diabetes) zugelassen. Der verwandte Wirkstoff Liraglutid ist bereits seit 2015 zur Adipositas-Behandlung zugelassen. Semaglutid und Liraglutid gelten bei dieser Indikation als Lifestyle-Medikamente. Eine Verordnung zu Lasten der GKV ist ausgeschlossen (siehe KVB ). Die Dosis von Semaglutid wird im Verlauf gesteigert. Die Kosten  liegen damit zwischen 46,08 und 59,46 Euro pro wöchentlicher Injektionsdosis.

Die EMA informiert über Semaglutid in einem deutschsprachigen Infoblatt  und auf ihrer Homepage . Laut EMA kann Semaglutid auch bei Jugendlichen ab 12 Jahren angewendet werden, wenn ihr Gewicht an der 95. Perzentile oder darüber liegt. Im Bulletin zur Arzneimittelsicherheit des BfArM und PEI  von Juni steht dagegen, dass bisher nur Liraglutid zur Anwendung ab 12 Jahren indiziert ist.
Das Infoblatt der EMA informiert ausführlich über vorliegende Studien zur gewichtsreduzierenden Wirkung von Semaglutid von bis zu 16 % innerhalb von 68 Wochen, auch bei Jugendlichen. Dabei ist aber besonders interessant, dass Patient*innen in einer Crossover-Studie, die nach 20 Wochen von Semaglutid zu Placebo wechselten, nach 48 Wochen fast bis zum Ausgangsgewicht wieder zunahmen. Das bedeutet also, dass für einen langfristigen Abnehmerfolg Semaglutid dauerhaft eingenommen werden sollte.

Die EMA nennt als Nebenwirkungen lediglich die wohl doch erheblichen gastrointestinalen Beschwerden und Kopfschmerzen und verweist ansonsten auf die Packungsbeilage , in der unter anderem auch Gallensteine, Haarausfall, Komplikationen einer diabetischen Retinopathie sowie akute Pankreatitis genannt werden. Das Bulletin zur Arzneimittelsicherheit betrachtet die Nebenwirkungen kritisch und erläutert das im Raum stehende Risiko eines medullären Schilddrüsenkarzinoms und eines Pankreaskarzinoms. Bezüglich des Risikos eines Schilddrüsenkarzinoms läuft derzeit ein Signalverfahren der EMA. Die Ergebnisse stehen noch aus. Bisher gab es wohl keine Belege für einen Kausalzusammenhang der Einnahme von Semaglutid mit Pankreaskarzinomen. Das Risiko soll aber in weiteren Studien untersucht werden.

Kein gutes Licht auf Semaglutid wirft das Verhalten der Herstellerfirma Novo Nordisk bei der Vermarktung ihres Produkts. Die BUKO Pharma-Kampagne  berichtet über finanzielle Beeinflussung von britischen Expert*innen. Diese sollen beim britischen National Institute for Health and Care Excellence (NICE) auf eine Empfehlung der Kostenerstattung für Semaglutid hingewirkt haben, obwohl klare Interessenskonflikte bezüglich Novo Nordisk bestehen. Auch MEZIS (Mein Essen zahl' ich selbst) weist in einer aktuellen Pressemitteilung  auf finanzielle Einflussnahme durch Novo Nordisk und schwere Interessenkonflikte bei deutschen Ärzt*innen und Fachgesellschaften in Schlüsselpositionen hin.

Durch gesunde Prominente, die Semaglutid off label und ohne Indikation eingenommen und abgenommen haben, sowie durch Werbung und Einflussnahme der Herstellerfirma ist ein Hype entstanden. Dieser wurde durch billige Tricks von Novo Nordisk noch angeheizt. Die Firma verkündete, dass es bei hoher Nachfrage zu Lieferengpässen kommen würde. Wir kennen das vom Online-Handel: Mit dem Hinweis „nur noch wenige auf Lager“ sollen Kund*innen zum sofortigen Kauf angeregt werden. Der erwartete Ansturm auf Semaglutid nach der Markteinführung in Deutschland ist laut aerzteblatt.de  jedoch ausgeblieben.

Bei all den Marketing-Kampagnen sind Bedenken nicht so laut geworden, wie sie sollten: Semaglutid muss langfristig angewendet werden, sonst kommt es rasch wieder zu einer relativ starken Gewichtszunahme. Aber über die Langzeiteffekte der für die Adipositas-Therapie erforderlichen hohen Dosierungen von Semaglutid ist nicht viel bekannt. Ausreichende Ergebnisse von Endpunktstudien zum langfristigen Nutzen liegen noch nicht vor. Zur Zulassung bei Kindern ab 12 Jahren stellt sich auch die Frage, ob ein teures und bezüglich der Langzeiteffekte nicht gut erforschtes Medikament wirklich empfohlen werden soll, bevor beispielsweise ein Werbeverbot für ungesunde Lebensmittel für Kinder umgesetzt ist. Jetzt verdient die Lebensmittelindustrie daran, Kindern dickmachende Lebensmittel zu verkaufen, und die Pharmaindustrie daran, diese Kinder dann wieder „dünn“ zu machen.

Marlies Karsch (Chefredakteurin)

 

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