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Erfahrungsbericht-Fortsetzung: Akutversorgung in Deutschland

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In der letzten Woche habe ich Ihnen von meinen Erlebnissen in der Akutversorgung in Italien berichtet. Nun möchte ich erzählen, wie die weitere Versorgung meiner Fingerfraktur in Deutschland ablief. Hier hat sich das deutsche Gesundheitssystem auch nicht gerade mit Ruhm bekleckert. Es ist jedenfalls sehr interessant, einmal als Patientin „auf der anderen Seite“ zu stehen. Schwachstellen in der Versorgung am eigenen Leibe zu erfahren, ist sehr lehrreich.

Am Montag nach meinem Urlaub brauche ich eine Arbeitsunfähigkeits-Bescheinigung und stelle fest, dass die Hausarztpraxis, die ich vor allem für bürokratische Belange aufsuche, wegen Urlaub geschlossen ist. Eine benachbarte Hausarztpraxis will mich nicht drannehmen, weil ich Neupatientin sei (was gar nicht stimmt).

Am Dienstag suche ich eine handchirurgische Praxis auf. Den Termin habe ich von Italien aus vereinbart. In dieser Praxis bekomme ich meine AU-Bescheinigung. Der Handchirurg sieht meine Röntgenbilder an und sagt mir, dass mein Finger nicht operiert werden muss, weil er schon schön zusammengewachsen sei. Ich zeige ihm die Rotationsfehlstellung des Fingers. Der sommerlich leuchtend orange lackierte Fingernagel ist deutlich sichtbar um 45 Grad verdreht. Beim Faustschluss unterkreuzt der Finger die anderen Finger. Jetzt überweist mich der Handchirurg zum CT. Das Ganze sei dringlich, und ich solle schnellstmöglich wiederkommen.

Nach langem Herumtelefonieren bekomme ich einen CT-Termin am Donnerstag. Die nette Ärztin in Weiterbildung in der radiologischen Praxis sagt mir, dass mein Finger sehr schön ohne Dislokation zusammengewachsen sei. Auch ihr muss ich erst meinen Finger zeigen, dann wird auch die Rotation auf den CT-Bildern gesehen. Ich bekomme einen Zugangscode zum Patientenportal. Allerdings sind meine Bilder dort nicht verfügbar. Ich muss mehrmals in der radiologischen Praxis anrufen, bis die Bilder eingestellt werden.

Durch hartes Verhandeln mit dem Empfang der handchirurgischen Praxis bekomme ich einen Wiedervorstellungstermin am Freitag. Meine CT-Bilder sind für die Praxis nicht einsehbar. Glücklicherweise habe ich meinen Zugangscode dabei. Der Handchirurg sagt mir, dass ich eine Rotationsfehlstellung habe, die dringlich operiert werden muss. Er möchte mich dafür weiter überweisen, weil der Eingriff schwierig werde. Ich soll einen eiligen Termin in einer anderen handchirurgischen Praxis vereinbaren.

Den eiligen Termin in der anderen Praxis bekomme ich am Montag. Die freundliche Kollegin in Weiterbildung zur Handchirurgin in der neuen Praxis erklärt mir, dass bei meinem Finger eine Rotationsfehlstellung vorliege, die dringlich operiert werden sollte. Sie gibt mir eine Einweisung. Ich soll mich möglichst schnell in der benachbarten handchirurgischen Klinik vorstellen. Anmelden soll ich mich selbst. Ich rufe in der Klinik an, sage, dass ich Kollegin bin und dringend operiert werden muss, und bekomme einen Termin in der Handsprechstunde am Mittwoch.

Am Empfang der Handsprechstunde nimmt eine etwas genervt wirkende Dame alle meine Daten auf. Ich muss eine Weile warten, dann werde ich von einem netten Arzt in Weiterbildung aufgerufen. Er ist tatsächlich der erste Kollege, der meine Hand vollständig untersucht. Der herbeigerufene Chefarzt erklärt mir, dass mein Finger dringlich operiert werden muss. Leider gibt es erst einen freien OP-Termin am Freitag. Obwohl meine Daten bereits im System der Klinik gespeichert sind, muss ich noch zur Verwaltung für die stationäre Aufnahme. Im Glaskasten des Klinikempfangs sitzen drei Personen und trinken Kaffee. Die Wartezeit ist so unendlich lang, dass die Wartenden sich anfreunden und miteinander austauschen. Insgesamt habe ich an diesem Vormittag fünfeinhalb Stunden in Wartebereichen der Klinik verbracht und ein paar nette Gespräche mit Mitpatient*innen geführt.

Ich muss am OP-Tag um 07:00 Uhr nüchtern in der Klinik erscheinen. Die Operation erfolgt um 14:00 Uhr, weitere sieben Stunden Wartezeit. Aber dann geht es richtig los: Das Anästhesieteam ist sehr freundlich und leistet tolle Arbeit. Das Legen der Plexusanästhesie am Arm geht völlig schmerzlos vonstatten. Die Pflegekräfte und die Physiotherapeutin sind nett und kompetent. Ich bekomme einen genauen Fahrplan für die nächsten Wochen. Der Operateur erklärt mir alles ausführlich. Die Fraktur war schon vollständig verheilt und musste wieder aufgemeißelt werden. Er sagt mir: „Es wäre schon viel besser gewesen, wenn Sie wenigstens ein paar Tage früher gekommen wären.“

Mein Fazit: In Deutschland gibt es erhebliche Defizite auf der unteren bis mittleren Organisationsebene in der spezialistischen Primärversorgung und in Kliniken. Es ist kaum möglich, zeitnah einen eiligen Eingriff zu organisieren, wenn es sich nicht um einen Notfall handelt. Spezialist*innen in der Primärversorgung fühlen sich für Ihre Patient*innen nicht verantwortlich und unterstützen sie nicht bei der Organisation einer zeitkritischen Behandlung. Patient*innen müssen selbst Praxen und Ambulanzen für Termine durchtelefonieren. Hat man einmal die richtige Abteilung erreicht, ist die fachliche und zwischenmenschliche Versorgung in Deutschland allerdings hervorragend. Als Allgemeinärztin habe ich mit der Organisation bis zum OP-Termin 14 Tage gebraucht. Wie machen das Menschen, die nicht vom Fach sind? Geben die irgendwann auf?

Marlies Karsch (Chefredakteurin)

 

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