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Halloween: Vorbild für Angstbewältigung

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Ich gebe zu, als die früher nur aus anglo-amerikanischen Filmen und Serien bekannte „Halloween“-Tradition auch in Deutschland immer beliebter wurde, war ich nicht besonders angetan. Ich hielt das Ganze für kritiklose Übernahme eines weiteren Konsumtrends aus dem Fernsehen. Seit ich eigene Kinder habe, denke ich ganz anders darüber. Wenn ich alljährlich ihre angstfreie Begeisterung für alles Gruselige sehe, halte ich Halloween für eine echte Bereicherung.

Die Kinder in meiner Großfamilie haben im Kindergartenalter alle beim Animationsfilm „Findet Nemo“, der vor einem kleinen bunten Fisch handelt, vor Angst geweint. Filme mit freundlichen Gespenstern und Vampiren als Cartoon-Figuren anzusehen, war nicht möglich. Nachts hatten die Kinder oft eine unbestimmte Angst vor „Geistern“ und mussten getröstet werden.

Inzwischen sind alle an Halloween mit großem Ehrgeiz dabei, sich besonders schaurig, unheimlich und grausig zu verkleiden. Als Hobby-Maskenbildnerin der Familie brauche ich viel Kunstblut und Schminke. Unsere älteste Tochter schminkt mittlerweile sich selbst und auch Kinder der Unterstufe ihrer Schule. Die meisten Kinder sind überglücklich, wenn sie als furchtbare Zombies, blutrünstige Manga-Figuren oder Vampire durch die Nachbarschaft ziehen und andere „erschrecken“ können. Auch das Essen darf an diesem Abend grausig und eklig aussehen. Voller Genuss werden Schokoladen-Spinnen und Augäpfel aus Fruchtgummi verzehrt. Am Schluss wird zusammen ein wirklich unheimlicher Gruselfilm angesehen. Dabei lachen sie gemeinsam über durchschaubare Spezialeffekte und die erwartbare Handlung.

Ich verstehe jetzt, worum es bei Halloween geht: Kinder dürfen sich ihren eigenen Ängsten stellen und dabei die Kontrolle übernehmen. Kinder, die vor Zombiefilmen Angst haben, können sich als Zombie verkleiden und begreifen so, dass Gruselfiguren auf Fiktion und Maskerade basieren. Sie können sich ausprobieren, in der Sicherheit einer Gruppe zusammen mit ihren Freund*innen furchteinflößend auftreten, sich dabei mit Süßigkeiten vollstopfen und viel Spaß haben. Die Bräuche um Halloween dienen also nicht nur der Süßwarenindustrie, sondern stärken und ermutigen Kinder dabei, ihren eigenen Ängsten ins Auge zu sehen und sie zu überwinden.

Kinder nutzen so unbewusst Strategien, die auch in der kognitiven Verhaltenstherapie bei Angst, Panikstörungen und Phobien bei Erwachsenen zum Einsatz kommen, z. B. die Verbesserung eines Vermeidungsverhaltens durch Exposition. Wenn also ein bisher beängstigender Film gemeinsam angesehen und als harmlose Ansammlung von Gruseltricks erkannt wird, tritt bei den Kindern ein ähnlicher Effekt ein.

Natürlich ist klar, dass sich Ängste von Kindern und Jugendlichen auch auf reale Probleme beziehen, wie auf die Schule, auf Veränderungen des Körpers in der Pubertät, auf die Weltlage, den Klimawandel oder auf fehlende Gruppenzugehörigkeit. Dagegen hilft leider auch kein Halloween. Hier kann nicht nur Unterstützung durch die Familie, sondern auch durch Hausärzt*innen oder Psycholog*innen nötig werden, besonders bei starken Beeinträchtigungen durch die Angst. Die betroffenen Kinder und Jugendlichen brauchen Unterstützung dabei, sich ihren Ängsten zu stellen, diese auszuhalten und schließlich zu überwinden. Wird allerdings eine Angststörung diagnostiziert, ist eine kognitive Verhaltenstherapie die am besten untersuchte wirksame Therapieform.

Wir können Kinder nicht vor allen angsteinflößenden Aspekten des Lebens schützen und vor beängstigenden Situationen bewahren. Aber Sicherheit und Nestwärme in der Familie geben Kindern Stärke für emotionale Selbstregulation. Allerdings gibt es auch Situationen, in denen eine gewisse Furcht oder zumindest ein gesunder Respekt vor wirklichen Gefahren hilfreich ist. Meine Töchter beispielsweise würden niemals auf einer Veranstaltung ihr Getränk unbeaufsichtigt stehenlassen, im Dunkeln allein in einer einsamen Umgebung nach Hause gehen oder bei angetrunkenen Jugendlichen am Steuer ins Auto einsteigen. Ihnen ist bewusst, dass es K.-o.-Tropfen, sexuelle Übergriffe und Unfälle gibt, und sie gehen rational mit der Gefahr um.

Ich weiß nicht, wie Sie zu Halloween stehen. Wenn Sie sich darauf einlassen können, kann es richtig Spaß machen. Legen Sie sich einen Vorrat von, meinetwegen auch verhältnismäßigen gesunden, Süßigkeiten an und öffnen Sie den Nachbarskindern die Tür, wenn sie klingeln!

Marlies Karsch (Chefredakteurin)

 

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